Band: X

Seite: XI Zur Bandauswahl

In Band X liegen die Seitenzahlen zwischen I und 777.
Einleitung. XI
Aus den Sagen heben wir diejenigen der Dialen hervor. Was vom
unglücklichen Liebhaber erzählt wird, ist wohl nichts anderes als eine dunkle
Erinnerung an die Katzenopfer, die man den Unterirdischen brachte. Die
Sprüchwörter und sprüchwörtlichen Redensarten enthalten manches Originelle,
was wir in den anderen rätoromanischen Tälern nicht fanden. So hat sich
in einem Sprüchwort der malom erhalten, der neben der „malura“ zu
der ältesten Schicht der rätoromanischen Folklore gehört. Wenn das
münsterische Kinderlied das Brot aus Meran holt, woher ein altes oberländisches
… Lied den Safran kommen lässt, so stammt dies offenbar aus
ferner Zeit, da der Markt von Meran, der gewiss aus Oberrätien zahlreich
besucht wurde, einen Weltruf genoss.
Einen uralten, an den surselvischen
Kinderspruch: „praula maula“ erinnernden
… Märchenschluss bietet Nr. XXXV, der uns von jenem Märchenschatz
erzählt, den eine Generation der anderen in der rätoromanischen Ostmark überlieferte.
… In der gereimten Erzählung Nr. LV hat sich ein Lügenmärchen
erhalten, ein Seitenstück zur mendosa cantilena, die auch bei den Rätoromanen
… üppige, lose Blüten trieb. Von den Segen- und Fluchworten, denen,
in feierlicher Weise ausgesprochen, das Altertum eine wundersame Kraft
zutraute, haben sich bei den Rätoromanen nur wenige in neuerem Gewande
erhalten. Um so wertvoller sind Nr. LI, LII, LIII unserer münsterischen
Sammlung, alte Formeln des Heilbittens und der neben dem bösen Blick
von den Rätoromanen so gefürchteten Verwünschungen.
Da die Volkslieder meistens engadinisch gesungen wurden, bieten wir
die religiösen Volkslieder von Münster, die hier zum erstenmale gesammelt
vorliegen. Von den Sitten und Gebräuchen verdient die Art, wie das
St. Johannisfest gefeiert wurde, besondere Beachtung; es ist wohl der letzte
Rest der frohen Feier zu Ehren des Sonnengottes.
Alt sind die Hochzeitsreden und Trinksprüche des inneren Terzals.
Einzelne Andeutungen in den ersteren weisen auf eine Zeit zurück, da der
Bräutigam mit Hilfe der bewaffneten Genossen die Braut ihrer früheren
Heimat entführte. Der fragliche Teil der Hochzeitsreden führt wohl auf
jene rätische Hochzeitsfeier zurück, wo man nach der Weise des uralten
Liedes: „Ad eira ün pasçheder chi giaiva pasçhand“ den frohen Reigen tanzte.
Im Schluss der Antwort auf die Forderung, die Braut soll zum Kirchgang
erscheinen, haben wir eine deutliche Erinnerung an den alten Brauch, eine
falsche Braut zu unterschieben, der, wie es scheint, in ganz Bünden geübt
wurde und von dem sich noch im 18. Jahrhundert in Schams Spuren erhalten
… haben. So bedeuten diese Reden aus dem Grenztal einen wertvollen
Beitrag zur Geschichte der Hochzeitssitten bei den Rätoromanen.
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