<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> Einleitung. 9 <lb/>
Was wir jahrelang suchten, haben wir erst in ganz letzter Stunde <lb/>
gefunden: das unter dem Namen: „Il rodel de Pigneu“ bekannte <lb/>
alte Kinderlied, das offenbar Überreste uralter Formeln aufweist. Diejenigen, <lb/>
… die noch sicher und vollständig dieses Lied sowie das Sennenlied <lb/>
„L' Ave Maria dils signuns“ kennen, werden von Jahr zu Jahr seltener, <lb/>
bis auch diese alten Erbgüter mit dem letzten Wissenden an die „heilige <lb/>
Erde“, wie die Rätoromanen die Altmutter nennen, zurückgegeben werden. <lb/>
Mit den alten Leuten verschwindet allgemach der Schatz von Sagen und <lb/>
Märchen, Liedern und Sprüchen. Heute wäre es sehr schwierig, eine wenn <lb/>
auch geringe Anzahl von Märchen zu sammeln; klingt es ja dem jungen <lb/>
Geschlechte wie ein Märchen, wenn man behauptet, es hätte einmal rätoromanische <lb/>
… Märchen gegeben! Das stattliche Haus in Crestas, wo wir die <lb/>
ersten rätoromanischen Märchen sammelten, wo die Hausfrau so sicher und <lb/>
schön das Märchen von dem Drachentöter erzählte und jenes andere <lb/>
vom Raben, das Sophus Bugge allein neben einem neapolitanischen Märchen <lb/>
als ein Beispiel einer lösenden und befreienden Kraft der Tränen aus der <lb/>
weltweiten Märchenwelt in seinen Untersuchungen über die Entstehung der <lb/>
nordischen Götter- und Heldensagen anführt; wir wiederholen es wehmütig: <lb/>
… jenes Märchenheim ist zerfallen. Und selten geworden sind die <lb/>
Bäuerinnen, die abends dem andächtig lauschenden Kreise noch Märchen <lb/>
erzählen. <lb/>
Wie oft wies uns eine alte Märchenerzählerin auf eine Freundin, die <lb/>
dieses oder jenes Märchen wüsste. Hatten wir dann eine Tagreise zurückgelegt, <lb/>
… um jene andere Märchenfrau aufzusuchen, welch stilles Glück war <lb/>
es dann, beim Flimmern der Unschlittkerze ein neues Märchen erlauschen <lb/>
und aufschreiben zu können! An freudigen Überraschungen fehlte es <lb/>
nicht; so, wenn eine Bauersfrau in einem oberländischen Dörfchen plötzlich <lb/>
vom Julierberg und den drei Winden zu erzählen begann. Besonders waren <lb/>
es die Frauen, die Bauerstochter, die neben ihrem Gebetbuche wenige <lb/>
Bücher kennt, wie das Fräulein, das die Dichter der grossen Nachbarvölker <lb/>
… im Urtext liest, die uns mit sinnigem Verständnis und tatkräftiger <lb/>
Hand bei der beschwerlichen Sammelarbeit unterstützten. <lb/>
Das letzte Märchen, das wir gesammelt haben, ist das Märchen von <lb/>
der Kerze, dessen Eingang uns an das Polyphemmärchen erinnert; nur ist <lb/>
an die Stelle des Widders die Ziege mit langen Haaren getreten, an die <lb/>
der Junge sich klammert, um unter dem Bauche der Ziege aus dem Stalle <lb/>
der Menschenfresserin gerettet zu werden; die drei Frauen, die in einem <lb/>
Bette schlafen, aus einer Schüssel essen und in jeder Nacht in einen grossen <lb/>
Keller voll hellbrennender Kerzen hinuntersteigen, bedeuten offenbar die <lb/>
lebenspendenden und todbringenden Schicksalsgöttinnen. </body> </text></TEI>