VII Vorrede.
Das erste Denkmal der geschriebenen Litteratur der Rätoromanen,
das Lied vom Müsserkriege, wuchs aus jener siegesfreudigen und selbstbewussten
… Stimmung hervor, welche die glorreichen Kämpfe des Schwabenkrieges,
… vorzüglich die Entscheidung an der Calven - Klause, im Bündner
Volke geweckt hatten. Es schien, als ob die junge Litteratur den patriotischen
… und politischen Bestrebungen, die in diesem Volke lebendig waren,
freudigen Ausdruck geben sollte.
Da kam die Reformation. Alles trat zurück neben den religiösen
Interessen, und die Glaubenskämpfe wurden mit einer Leidenschaft geführt,
welche an die Naturmächte des Hochgebirgs mahnen. Gerade aus dem
Engadin, dessen Litteratur dieser Band gewidmet ist, stammten die hervorragendsten
… Vorkämpfer der neuen Lehre, und die litterarischen Arbeiten
eines Bivrun und Campell waren es, welche an den Ufern des Inns den
Sieg dieser Lehre entschieden.
Nachdem der Vater des rätoromanischen Schrifttums, Johann Travers,
die ersten Dramen übersetzt hatte, folgten — meist Uebertragungen nach
Zürcher Drucken — eine ganze Reihe solcher Spiele, die unter grosser
Teilnahme des Volkes zur Aufführung gelangten. Auch das Theater diente
den religiösen Kämpfen; sogar eine Disputation zwischen den Vertretern
des alten und des neuen Glaubens erschien als geeignet zu dramatischer
Bearbeitung und zur Darstellung auf der Bühne.
Das Volkslied, das noch zu Anfang des XVI. Jahrhunderts frische
Blüten getrieben hatte — wir ersehen das aus den Liederanfängen, die
Campell uns aufbewahrt hat —, musste dem religiösen Liede weichen. Die
Hochzeitsreden mit ihrem derben Humor und schlagenden Witz wurden
ernst, gemessen, mit biblischen Citaten durchsetzt. Der strenge puritanische
Geist machte sich hier auf Kosten des nationalen geltend.
Von den Anfängen des Schulwesens erzählt uns das Lied vom A B C,
und altengadinisches Leben spiegelt sich in der Reimchronik des Richters
Aliesch.
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