VIII Einleitung.
Außerachtlassung der Universalität der Folkloristik; aber im großen und
ganzen erkannte er schon damals mit einer genialen Intuition, wo Schätze
lagen, die gehoben werden mußten. Er wies auf Reste des Wuotan - Kultus
hin, gab Belege fürs Totenvolk, für den Naturmythus, fand in der „dunna
alva“ die holde Berchta, entdeckte im Scheibenwerfen den Thorkultus und
in den patlaunas älteste Opferkuchen, glaubte Druidensteine gefunden zu
haben, entdeckte die Verwandtschaft der Walküren in den romanischen
strias, die Hagel bräuen und den göttlichen Eber der Freya, auf welchem
diese zur Walhalla ritt, fand er im Märchen des Oberländers, der vom
Paris an die bündnerische perdanonza auf einem Schwein ritt. Das
Katzengespann der Freya scheint in den romanischen Hexen zu spuken,
die zu Katzen werden. Klänge der Faustsage bieten die scolars della scola
nera, welche Gold finden. Heilige Quellen und der Blitzstrahl, welcher
mit der Milch einer schwarzen Kuh gelöscht werden kann, reden von heidnischen
… Opfern und vom Naturkultus.
Älteste Spuren verloren gegangener Kriegslieder fand Decurtins bei
Campell, wo dieser den Schwabenkrieg beschreibt. Andere Volkslieder,
zumal die Liebeslieder, „die singend und pfeifend durchs romanische Volk
ziehen“, vergleicht er poetisch mit dem „gedehnten, zitternden und doch
so melodiereichen Ton der Schalmei, der den Sohn der Berge in der
Fremde mit tiefem Heimweh erfüllt und ihn nicht rasten läßt, bis er wieder
den zauberischen Klang hört auf den grünen Matten der Heimat.“ Neben
den herrlichen Kinderliedern der „Consolaziun della olma“ läßt er auch
das beißende politische Lied auftreten. Die Schlußworte geben ein lebhaftes
… Bild der Begeisterung, mit welcher Decurtins dasjenige zusammentrug,
… was wir jetzt im Riesenwerke der Chrestomathie besitzen. Er sagt:
„Auf grüner Matte, hoch über der Menschen Geschlechter, ragen Häuser
empor, vom nahen Horste kühl augeweht, vom rauschenden Bach fröhlich
begrüßt und vom letzten Strahl der Abendsonne mit fast überirdischem
Glanz verklärt, während noch die stolzen Alpenwiesen ringsum hell aufleuchten
… in flammender Majestät. Vor jenem Hause dort stehen Burschen
und Mädchen, und von den Fenstern herab nickt hernieder in bunter Pracht
die duftende Nelke. Von ferne her tönt Herdengeläut und dazwischen,
wie im Traume verlassen, das Alphorn. Seltsamerweise kichern die Mädchen
… vor jenem Hause nicht. Die Burschen stehen still lauschend in einer
Gruppe. Selbst die Kinder haben ihre Spiele vergessen und blicken neugierig,
… schier furchtsam auf einen alten Mann mit schneeweißem Haar, der,
auf der Bank sitzend, dem jungen Volke erzählt von all den Sagen und
all den Liedern, die er von seinen Vätern ererbt. Jenem Greis habe ich
auch gelauscht und was er damals in seiner schlichten Weise erzählte, das
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