Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
Einleitung 9
die Vorliebe, mit der gerade die Gerichtsszenen im Somvixer Passionsspiele
behandelt werden.
Wir hören noch die Linde über die Gauversammlung hinrauschen;
es wiederholen sich die alten Formeln, in denen im Ring Recht gesprochen
wurde. Wohl bestehen Beziehungen zwischen den „Caussas de dertgira“
und den Rechtsregeln der Passion. Wenn Dr. Tuor auf diese Bezugnahme
verweist 1), so wird er kaum einem Widerspruch begegnen; so
das Zeugeneinvernehmen nicht einer der deutschen Darstellungen des
Prozesses gegen den Herrn entnommen ist. Wenn er aber die Vermutung
ausspricht, der Übersetzer dieser deutschen Rechtsbelehrung habe mit
Verachtung auf die alten Formeln herabgeschaut 2), so kommt uns dies
unbegreiflich vor. Gerade das Gegenteil lässt sich aus jener peinlichen
Sorgfalt schliessen, mit welcher der Übersetzer dort verfährt,
wo in der Frage der Zulassung von Zeugen das übersetzte Rechtsbuch
vom Rechtsbrauch des Hochgerichtes Disentis abweicht. … Das ist
ein starker Beweis dafür, dass das heimische Recht in der Hochschätzung
der Gebildeten weiterlebte. Der Übersetzer der „Caussas da dertgira“ befindet
sich auf dem gleichen Standpunkte, wie die vielen an den Hochschulen
der damaligen Zeit gebildeten Juristen, die das Amt eines Landschreibers
verwalteten. Sie alle haben zwar, wo das Weisstum des Kreises nicht
ausreichte, anderswo Rechtsbelehrung gesucht; aber sie alle verehrten in
der Rechtsordnung der Heimat das „Recht der Ahnen“ und nichts lag
ihnen ferner als die hochfahrende Absicht, das heimische Recht durch
fremdes zu verdrängen und zu ersetzen. Daran zweifeln wollen, hiesse
jene Kraft verkennen, die als Volkssitte stark genug war, alle im Banne
der gleichen Lieder zu halten und alle zu den gemeinsamen Tanzveranstaltungen,
den Gemeindetänzen, zu führen; wie sie der heimatlichen Sitte gehorchten,
so beugten sich alle vor dem eigenen Rechte. Das erklärt uns
denn auch, wie in der Somvixer Passion, obwohl die Vorstellung des alten
Strafgerichtes, wo das Volk der drei Bünde in Waffen Recht sprach, sich
aufdrängte, dennoch der Herr gerade nach dem Rechte des Hochgerichtes
Disentis gerichtet wird. Dieser Umstand allein bekundet zur Genüge die
kräftige Ursprünglichkeit und das echte warme Leben, diese wesentlichen
Eigentümlichkeiten, die dem Somvixer Passionsspiel seinen kostbaren Erdgeruch
verleihen.
Ein Vergleich des Kriminalprozesses, der dem letzten Redaktor des
Passionsspieles vorschwebte, mit dem Kriminalprozess, wie er in der Mitte
1) Igl Ischi IX: Co dertgaven nos babuns sur malfatgs? … Da Dr. P. Tuor, p. 150.
2) Ibid. p. 89.
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