Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
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La Passiun da Somvitg
… ihren Einfluss auf die Politik der drei Bünde aus, in welchen
man eine österreichische, spanische und venetianische Partei kannte.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war das Land durch die
religiös - politischen Kämpfe erschöpft und man suchte in einer ängstlich
abgezirkelten Parität die so nötige Ruhe. Freilich begegnen wir noch
beim Ausgang des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts gerade im
Hochgerichte Disentis, mit seiner geweckten, freiheitsstolzen Bevölkerung,
Kämpfen, die durch ihre leidenschaftliche Wildheit an die früheren bösen
Zeiten erinnern, da die allerschlimmste politische Leidenschaft sich das
Kleid des Richters umwarf und über die politischen Gegner Tod und Verderben
brachte.
Es ist daher kein Zufall, wenn das bedeutendste Erzeugnis volkstümlicher
Dramatik bei den Rätoromanen in Somvix entstand; war ja gerade
diese Gemeinde noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der
Schauplatz eines leidenschaftlichen Kampfes, indem die religiösen und politischen
Gegensätze, wie sie die bündnerische Politik des 16. Jahrhunderts
beherrscht hatten, noch einmal aufflackerten. Im Landrichter Nicolaus
Maissen 1) hatte ein Sohn des Volkes sich eine Stellung neben den führenden
aristokratischen Geschlechtern errungen. Zu diesen sozialen Gegensätzen
gesellten sich die politischen, indem Maissen ein Anhänger Österreichs
war, während die Castelberg und Latour, die bis dahin das Hochgericht
Disentis ausschliesslich beherrscht hatten, damals zur französischen Partei
gehörten.
In den religiösen Fragen unterstützte Maissen den energischen und
grosszügigen Pfarrer und späteren Domherrn Mathias Sgier, einen kraftvollen
Spätgeborenen der katholischen Gegenreformation. Das war für
Nicolaus Maissen eine Allianz, die ihm wahre Grösse hätte verschaffen
können; aber Geiz und Gewalttätigkeit des Mannes boten den aristokratischen
Familien, der französischen Partei und dem Abte von Disentis
Adalbert II. de Medel, der auch ein Anhänger Frankreichs war, eine
Gelegenheit, den mächtig gewordenen Bauernsohn … zu stürzen. Der Prozess
und Tod Maissens versetzte die Gemeinde Somvix in eine jahrelange gewaltige
Aufregung. Die Steinplatte, die das Grab des gewaltigen Somvixers
… in der Kathedrale zu Chur deckte, vermochte es nicht, sich über
die Erregung des Volkes auszudehnen. Die höchste Würde, die von der
Talgemeinde Disentis zu vergeben ist, die Misterlia, wurde Adalbert, dem
jugendlichen Sohn des Geächteten und Ermordeten,
übertragen 2).
1) C. Decurtins, Landrichter Nikolaus Maissen.
2) P. Maurus Carnot hat die tragische Gestalt des Landrichters Maissen in
seinem prächtigen Trauerspiel „Clau Maissen“ behandelt. Wir möchten dieses
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