Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
220
Blutrache und Sühneversuch
in der „Cuorta Memoria“. Beim Abte Lucius Anrich erzählt der Chronist,
wie der einflußreiche Landrichter Johann de Florin, … der Führer der Oberländer
Katholiken, Kastenvogt des Klosters Disentis, als er vom Konzil
von Trient heimkehrte, von einem fatalen Ereignis betroffen wurde.
Als er einst am späten Abend sein Haus verschlossen fand und
durch eine höher gelegene Türe Eingang suchte und die Mauer bestieg,
traf ihn ein aus einem Hinterhalte geworfener Stein so heftig in die Hüfte,
daß der Getroffene zu Boden fiel. Als er sich nach einer Weile erholte
und aufstehen wollte, ward ein zweiter Stein geschleudert, der ihn am
Kopfe traf und ihn erschlagen hätte, wenn nicht der Hut die Wirkung
des Wurfes etwas zurückgehalten hätte. Da warf de Florin aufs Geratewohl
einen Stein zurück, da er bei der dichten Finsternis den Angreifer
nicht hatte erkennen können und traf seinen eigenen Knecht Martin
Fravi, der tot auf dem Platze blieb 1).
War der Knecht der Schuldige und de Florin in gerechter
Notwehr 2)
oder spielte ein unglücklicher Zufall mit? Da die Prozeßakten beim Brande
von Disentis i. J. 1799 zerstört worden, lassen sich nur Vermutungen
anstellen.
Wie die Chronik erzählt, „entstand sofort ein gewaltiger Lärm und
das Volk eilte in großer Zahl zur Unglücksstätte. Schon am darauffolgenden
Morgen versammelten sich 14 Herren der Obrigkeit, um eine
1) Decurtins, Quattro testi soprasilvani im Archivio Glottologico italiano,
Volume settimo, Puntata seconda. Das noch erhaltene Haus ist auf zwei Seiten
mit gotischen Würfeln grau und weiß bemalt und zeigt an der Fassade in einem
großen Gemälde Gott Vater, wie er das Kreuz mit dem Welterlöser in den
Armen hält. Vgl. Neue Alpenpost, 1881, N. 18, S 141.
2) Fabritius schreibt an Bullinger, 20. Mai 1562: „Ir wüssend, das in dem
Obern Pundt 2 fürnemm Männer gesyn, die es am gut vnd verstand den andern
wyt vorthund, alter Cabalzar, alter Johann Floryn von Disitis. Die hand bisshar
… in dem Obern Pundt dem Pabst vnd den V Pagis ir sach gefürt. Doch
sind sy diss jar gar zimlich gefaren, hand sich in vilen Stuken fründtlich erzeigt
(sed tarnen is Florinus est, qui autor fuit, ut ejiceretur Beccaria). Jetz ist man
letstlich in dem Oberen Pundt zu tagen by einandern gesyn. Ist Cabalzar
landtrichter worden, vnd als er heymkommen, ist er mit sinem Nachpuren in
zerwüffnus kommen, der jnn biss vf den tod geschlagen, ettliche zähn vss, vnd
den Bart vssgeroufft, also das man achtet, er werde zu tagen nit mehr gebrucht
werden. Als aber Houptmann Floryn heymkommen (sol ein wyb von Vri han,
der sol er vor dem knächt gefürcht han) hat er in einer zerwürffnus den
knecht mit einem Stein zu tod geworffen. Ist der handel berächtet. Sol der
Houptmann 200 Fl. des endtlybten fründtschaft geben, vnd 1 jar leisten. Haec
ideo scribo, das ir sächind, wie der Tüffel ouch sine Märtyrer habe. Simml. S.“
Die evangelische Gemeinde in Locarno, ihre Auswanderung und ihre weitern
Schicksale von Ferdinand Meyer II, S. 234f.
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