Band: XIII

Seite: 17 Zur Bandauswahl

In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
Einleitung 17
ausgerüstet mit Lanzen, Morgensternen, ein- und zweihändigen Schwertern,
Bombardons und allerlei Gewehren und führten Jesum auf den Platz in
der Mitte des Dorfes, wo auf dem Brunnen die zweite Bühne errichtet war,
das Haus des Annas und Kaiphas vorstellend. Von dort wurde der Herr
mit der Gesandtschaft der Synagoge zur dritten Bühne am westlichen
Dorfende geführt, zum Palast des Pilatus. Auf einem kleinen Hügel
ausserhalb des Dorfes war die Schädelstätte. Das Volk, das die Spielenden
immer begleitet hatte, umgab das Kreuz. Auf dieser Anhöhe von Tresch,
mit dem Anblick auf das über Disentis thronende Kloster und im Anblick
des weit sich öffnenden Tales, unter dem Geläute der Glocken erstieg das
Passionsdrama seinen Höhenpunkt. War schon der Aufstieg zur Schädelstätte,
Pilatus, Herodes und die Hohenpriester hoch zu Ross, die Juden mit
geschwungenen Morgensternen und Spiessen, ein Schauspiel, das „man nie
vergessen kann“, wie uns ein greiser Rabiuser 1) sagte, so bildete die
Aufrichtung des Kreuzes jene tiefergreifende Szene, bei der alles Volk
aufschrie und weinte.
Zahlreich war das Volk aus der Cadi, der Gruob, aus dem Lugnez,
ja selbst aus den entfernten Ortschaften Ems, Bonaduz und Rhäzüns herbeigeeilt,
der Besuch des Passionsspieles galt allen als ein frommes Werk
und auf dem Wege wurde hin und zurück von vielen der Rosenkranz gebetet.
Das ganze Volk, Männer und Frauen, Greise und Kinder, stand
so im Banne des Erlebten, dass die Spieler, als sie ins Dorf zurückkehren
wollten, sich mit Waffen in der Hand den Weg frei machen
mussten.
So war das Passionsspiel von Somvix. Darsteller und Teilnehmer
waren ein Volk, das sich wie an den Feiertagen in der Kirche, so im
weiten, himmelragenden Tempel des Alpenlandes zur erhabenen religiösen
Handlung versammelte, im Fühlen und im Denken, im Glauben und im
Wandel den Völkern noch gleich, die im Mittelalter die Passionsspiele
liebten, spielten und miterlebten. Es blieb für das gottesfromme und
freiheitsstolze Volk am jungen Rhein das „unvergleichliche“ Spiel und des
Lebens schönste Erinnerung.
Wir geben die Passiun in diplomatisch genauem Abdruck nach der
Handschrift A, die wir in Bd. I, S. XXXI beschrieben haben. Diese
Handschrift ist die einzige vollständige.
1) Der nämliche Gewährsmann erzählte uns über die Technik des Spieles,
die Judendarsteller haben Schwämme, mit Tierblut angefüllt, an den Fäusten
befestigt und bei den Schlägen sei das Blut weit herumgespritzt; … besonders
grausig sei der erhängte Judas mit weit heraushängender Zunge anzusehen gewesen.
Romanische Forschungen XXXIII. 2
<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> Einleitung 17 <lb/>
ausgerüstet mit Lanzen, Morgensternen, ein- und zweihändigen Schwertern, <lb/>
Bombardons und allerlei Gewehren und führten Jesum auf den Platz in <lb/>
der Mitte des Dorfes, wo auf dem Brunnen die zweite Bühne errichtet war, <lb/>
das Haus des Annas und Kaiphas vorstellend. Von dort wurde der Herr <lb/>
mit der Gesandtschaft der Synagoge zur dritten Bühne am westlichen <lb/>
Dorfende geführt, zum Palast des Pilatus. Auf einem kleinen Hügel <lb/>
ausserhalb des Dorfes war die Schädelstätte. Das Volk, das die Spielenden <lb/>
immer begleitet hatte, umgab das Kreuz. Auf dieser Anhöhe von Tresch, <lb/>
mit dem Anblick auf das über Disentis thronende Kloster und im Anblick <lb/>
des weit sich öffnenden Tales, unter dem Geläute der Glocken erstieg das <lb/>
Passionsdrama seinen Höhenpunkt. War schon der Aufstieg zur Schädelstätte, <lb/>
Pilatus, Herodes und die Hohenpriester hoch zu Ross, die Juden mit <lb/>
geschwungenen Morgensternen und Spiessen, ein Schauspiel, das „man nie <lb/>
vergessen kann“, wie uns ein greiser Rabiuser 1) sagte, so bildete die <lb/>
Aufrichtung des Kreuzes jene tiefergreifende Szene, bei der alles Volk <lb/>
aufschrie und weinte. <lb/>
Zahlreich war das Volk aus der Cadi, der Gruob, aus dem Lugnez, <lb/>
ja selbst aus den entfernten Ortschaften Ems, Bonaduz und Rhäzüns herbeigeeilt, <lb/>
der Besuch des Passionsspieles galt allen als ein frommes Werk <lb/>
und auf dem Wege wurde hin und zurück von vielen der Rosenkranz gebetet. <lb/>
Das ganze Volk, Männer und Frauen, Greise und Kinder, stand <lb/>
so im Banne des Erlebten, dass die Spieler, als sie ins Dorf zurückkehren <lb/>
wollten, sich mit Waffen in der Hand den Weg frei machen <lb/>
mussten. <lb/>
So war das Passionsspiel von Somvix. Darsteller und Teilnehmer <lb/>
waren ein Volk, das sich wie an den Feiertagen in der Kirche, so im <lb/>
weiten, himmelragenden Tempel des Alpenlandes zur erhabenen religiösen <lb/>
Handlung versammelte, im Fühlen und im Denken, im Glauben und im <lb/>
Wandel den Völkern noch gleich, die im Mittelalter die Passionsspiele <lb/>
liebten, spielten und miterlebten. Es blieb für das gottesfromme und <lb/>
freiheitsstolze Volk am jungen Rhein das „unvergleichliche“ Spiel und des <lb/>
Lebens schönste Erinnerung. <lb/>
Wir geben die Passiun in diplomatisch genauem Abdruck nach der <lb/>
Handschrift A, die wir in Bd. I, S. XXXI beschrieben haben. Diese <lb/>
Handschrift ist die einzige vollständige. <lb/>
1) Der nämliche Gewährsmann erzählte uns über die Technik des Spieles, <lb/>
die Judendarsteller haben Schwämme, mit Tierblut angefüllt, an den Fäusten <lb/>
befestigt und bei den Schlägen sei das Blut weit herumgespritzt; … besonders <lb/>
grausig sei der erhängte Judas mit weit heraushängender Zunge anzusehen gewesen. <lb/>
Romanische Forschungen XXXIII. 2 </body> </text></TEI>