<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> Einleitung 17 <lb/>
ausgerüstet mit Lanzen, Morgensternen, ein- und zweihändigen Schwertern, <lb/>
Bombardons und allerlei Gewehren und führten Jesum auf den Platz in <lb/>
der Mitte des Dorfes, wo auf dem Brunnen die zweite Bühne errichtet war, <lb/>
das Haus des Annas und Kaiphas vorstellend. Von dort wurde der Herr <lb/>
mit der Gesandtschaft der Synagoge zur dritten Bühne am westlichen <lb/>
Dorfende geführt, zum Palast des Pilatus. Auf einem kleinen Hügel <lb/>
ausserhalb des Dorfes war die Schädelstätte. Das Volk, das die Spielenden <lb/>
immer begleitet hatte, umgab das Kreuz. Auf dieser Anhöhe von Tresch, <lb/>
mit dem Anblick auf das über Disentis thronende Kloster und im Anblick <lb/>
des weit sich öffnenden Tales, unter dem Geläute der Glocken erstieg das <lb/>
Passionsdrama seinen Höhenpunkt. War schon der Aufstieg zur Schädelstätte, <lb/>
Pilatus, Herodes und die Hohenpriester hoch zu Ross, die Juden mit <lb/>
geschwungenen Morgensternen und Spiessen, ein Schauspiel, das „man nie <lb/>
vergessen kann“, wie uns ein greiser Rabiuser 1) sagte, so bildete die <lb/>
Aufrichtung des Kreuzes jene tiefergreifende Szene, bei der alles Volk <lb/>
aufschrie und weinte. <lb/>
Zahlreich war das Volk aus der Cadi, der Gruob, aus dem Lugnez, <lb/>
ja selbst aus den entfernten Ortschaften Ems, Bonaduz und Rhäzüns herbeigeeilt, <lb/>
der Besuch des Passionsspieles galt allen als ein frommes Werk <lb/>
und auf dem Wege wurde hin und zurück von vielen der Rosenkranz gebetet. <lb/>
Das ganze Volk, Männer und Frauen, Greise und Kinder, stand <lb/>
so im Banne des Erlebten, dass die Spieler, als sie ins Dorf zurückkehren <lb/>
wollten, sich mit Waffen in der Hand den Weg frei machen <lb/>
mussten. <lb/>
So war das Passionsspiel von Somvix. Darsteller und Teilnehmer <lb/>
waren ein Volk, das sich wie an den Feiertagen in der Kirche, so im <lb/>
weiten, himmelragenden Tempel des Alpenlandes zur erhabenen religiösen <lb/>
Handlung versammelte, im Fühlen und im Denken, im Glauben und im <lb/>
Wandel den Völkern noch gleich, die im Mittelalter die Passionsspiele <lb/>
liebten, spielten und miterlebten. Es blieb für das gottesfromme und <lb/>
freiheitsstolze Volk am jungen Rhein das „unvergleichliche“ Spiel und des <lb/>
Lebens schönste Erinnerung. <lb/>
Wir geben die Passiun in diplomatisch genauem Abdruck nach der <lb/>
Handschrift A, die wir in Bd. I, S. XXXI beschrieben haben. Diese <lb/>
Handschrift ist die einzige vollständige. <lb/>
1) Der nämliche Gewährsmann erzählte uns über die Technik des Spieles, <lb/>
die Judendarsteller haben Schwämme, mit Tierblut angefüllt, an den Fäusten <lb/>
befestigt und bei den Schlägen sei das Blut weit herumgespritzt; … besonders <lb/>
grausig sei der erhängte Judas mit weit heraushängender Zunge anzusehen gewesen. <lb/>
Romanische Forschungen XXXIII. 2 </body> </text></TEI>