Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
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La Passiun da Somvitg
drei Bünde in der damaligen Zeit charakteristisch ist, sodass mit Ausnahme
des „Heliand“ wohl nirgends das Leiden Christi so echt national
dargestellt worden ist; wird ja Christus nach „dem Recht der drei Bünde“
vom „Landrichter“ Diarabias verurteilt! Die bewegten Szenen vor Pilatus
und Herodes offenbaren eine scharfe Beobachtung eines politisch geschulten
Volkes; der Charakter dieser Führer ist richtig gezeichnet, überall zeigt
sich der Einfluss der demokratischen Verfassung, bei der alles, was das
öffentliche Leben berührt, einem offenen Sinn und einem vollen Verständnis
begegnet.
Das ist die echte und rechte Folie unseres Somvixer Passionsspieles,
das nicht ein totes Wort auf totem Papier, sondern die Volksseele vor
dem Antlitz des Volkes war. Das muss festgehalten werden, sonst wird
der Wert des Spieles ebensowenig erkannt, als das Volkslied ohne Melodie
voll verständlich werden kann.
Zum Schlusse wollen wir versuchen, uns nach den Angaben von
Männern und Frauen, die noch dabei waren, ein Bild der Passionsaufführung
vom Jahre 1813 zu machen.
Während des Winters waren zahlreiche Proben abgehalten worden; die
kostbaren Kleider hatte man von „überallher kommen lassen“, und die Damen
der adligen Häuser hätten gerne ihre seidenen Kleider für das fromme
Spiel zur Verfügung gestellt; Herodes, Pilatus, Annas und Kaiphas seien
prächtig gewandet gewesen, während die Apostel verschiedenfarbige Talare
(rassas) trugen. Für das Interesse, das die ganze Gemeinde am Spiele
nahm, spricht die Tatsache, dass man dem Darsteller des Herrn, Statthalter
Sepp, beim Bau eines Stalles in Compadials nur die leichteren
Arbeiten zuwies, damit er sich nicht verletze.
Die zahlreichen, selbst aus entfernten Tälern schon am Vorabend
herbeigeeilten Besucher des Passionsspieles fanden gastliche Aufnahme und
unentgeltliche Bewirtung, da man dies als gutes Werk für selbstverständlich
hielt.
Das Spiel selbst begann auf einer Bühne, die ausserhalb des Dorfes
unter dem Hause des Landrichters Nicolaus Maissen auf einer freundlichen
Wiese errichtet war 1).
Dort war Jesu Abschied von Maria, der auf dem Volke tiefen Eindruck
machte, dann der Rat der Synagoge, wie sie Jesum fangen könnten,
und endlich das hl. Abendmahl. Von der Bühne weg begab sich Jesus
mit seinen Aposteln in einen am sonnigen Abhang gelegenen Garten.
Dorthin kamen unter Judas' Führung die Juden in den buntesten Trachten
der Kriegsdienste bei fremden Völkern, wo sich je Bündner befunden hatten,
1) Vgl. Beilage E.
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