Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
160
Einleitung
immer näher heran, bis er zuletzt an einen bereitgestellten Tisch herantrat,
auf dem ein Glas Wasser und ein Glas Wein standen. Das Glas mit dem
Wasser kostete er zuerst, liess es aber wieder stehen, trank den Wein aus
und schlug das Wasserglas von dem Tische herunter und flüchtete wieder
eiligst dem Walde zu, konnte ihn aber nicht mehr erreichen; denn ein
Schuss aus der Büchse des Brautführers streckte ihn zu Boden. Darauf
erhob er ein furchtbares Gebrüll und rief unausgesetzt: „Mein Weib, mein
Weib.“ Nun begaben sich der Brautführer und die Braut zu ihm und die
Braut verband ihm mit einem weissen Tuche die Wunde am Fusse und
sie führten ihn dann auf den Spielplatz zurück, wo dann ein eiserner Pflock
in das hintere Ende des Blockes hineingetrieben und der wilde Mann
mittelst einer langen eisernen Kette angehängt wurde. Jetzt spannten sich
die Burschen, etwa 15 Paare, vor den Schlitten und der Zug setzte sich
in Bewegung. Der angehängte wilde Mann gebärdete sich nun wie toll,
und versuchte fortwährend den Zug zum Stehen zu bringen, indem er jeden
Gegenstand am Wege benutzte, um die lange Kette, mit der er angebunden
war, um denselben zu schlagen. Wäre ihm dieses Manöver gelungen, so
wäre der Block sein Eigentum gewesen. Vorn auf dem Block stand der
festlich geschmückte Fuhrmann und knallte mit der Peitsche.
Beim alten Schiessstand wurde dann der Block zurückgelassen, der
wilde Mann aber an der Kette bis nach Compatsch geführt. Dort wurde
er dann von zwei in schwarzen Frack gekleideten Rasierern auf dem Hauptplatz
rasiert. Nachher wurde ihm noch „Ader gelassen“, indem ein in
seinem Rockärmel eingenähter und mit Blut gefüllter Darm mittelst eines
spitzigen Messers aufgestochen wurde, sodass das Blut in grossen Bogen
aufspritzte. Nun führten noch der wilde Mann und die Braut einen Tanz
auf und das Spiel war zu Ende. Für den Rest des Tages gehörte nun
aber die Braut dem wilden Manne.
Der Block aber und die übrigen Teile des mächtigen Stammes wurden
nun öffentlich versteigert und aus dem Erlös verschafften sich die Spieler
einige lustige Abende oder Marenden. —
Aus den Erinnerungen alter Leute, die Herr Anton Jenal cand. phil.
für uns in Samnaun gesammelt, geht hervor, dass auch eine Hexe mit einer
Wasserspritze, welche die Umstehenden bespritzte, und ein Maskute, welcher
ein Weib in einem Korbe trug, sich im Zuge des wilden Mannes befanden.
Auch in Truns suchte am letzten Fastnachtstage die erwachsene
Jugend den wilden Mann im Walde auf. Dieser war wieder über und über
mit Tannenzweigen und Tannenbart bedeckt. Gefangen genommen, wurde
er auf einem Schlitten zur Schaulust aller durchs Dorf geführt 1).
1) Bd. II, p. 224.
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