Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
Einleitung 159
Wald gegen St. Felix, um den wilden Mann zu suchen, der so mit Baumbart
und Moos bedeckt war, dass man nur seine Augen sah. In der Rechten
einen jungen Baum als Stock, geschmückt mit einer Kette aus Schneckenschalen,
die bei jeder Bewegung rasselten, war er mit zwei gleichgekleideten
Jungen in einer Höhle. Die Mädchen fingen die drei Wilden und führten
sie, mit roten Seidenbändern gefesselt, nach Marling, wo der wilde Mann
allerlei Spässe trieb. Die Feier wurde mit einem Essen geschlossen, bei
dem die Kinder und die drei Wilden mit Brot, Wein, Käse und Obst bewirtet
wurden.
Dieser Brauch mochte früher wohl ziemlich allgemein in den Gemeinden
Graubündens geherrscht haben. Ganz abgesehen von der bedeutenden Rolle,
die der wilde Mann in der Sage des Prätigaus spielt — bildet er ja das
Wappen des Zehngerichtenbundes — lassen sich sichere Spuren dieses
Brauches in verschiedenen Tälern nachweisen 1).
Das sogenannte Blockziehen fand immer am Fastnachtsdonnerstag
statt. Einige Tage vorher begaben sich alle jungen Burschen des Tales
in den sogen. „dicken Wald“, um den grössten und schönsten Lärchenstamm
zu fällen, eine Arbeit, die mitten im tiefsten Winter mit vielen Mühen
und grossen Gefahren verbunden war. Der Block hatte gewöhnlich 1 m
Durchmesser und 10 — 12 m Länge. Am Tage vor dem Fest wurde dann
der Block fein abgehobelt und bunt bemalt, auf einen Schlitten gelegt, der
hintere Teil aber lag am Boden, was das Ziehen noch mehr erschwerte.
Am folgenden Tage erschienen dann sämtliche Jünglinge des Tales festtäglich
gekleidet und mit bekränzten Hüten in Plan, wo der Block lag
und wo sich auch der Hauptteil des Festes abwickelte. Vorerst wurden
nun von einigen Possen aufgeführt. Da gab es einmal mehrere Rasierer,
die um einige Rappen die Zuschauer rasierten 2); ferner einen Ölträger, der
in kleinen und grösseren Gläschen seine verschiedenen Öle verkaufte, einen
sogen. Schalksnarren, der fortwährend die Zuschauer belästigte, ferner eine
Braut mit dem Brautführer. Nachdem dieses Treiben eine Zeitlang gedauert
hatte, tauchte in einer engen Seitengasse der wilde Mann auf, der über
und über mit Tannenzapfen und Baumflechten behangen war. Von den
Zuschauern in die Enge getrieben, flüchtete sich der wilde Mann über die
Brücke hinüber und in den Wald hinauf. Nun begann die Musik zu
spielen und lockte so allmählich durch ihre Weisen den wilden Mann
1) Wir geben die Schilderung des Wildenmannspiels in Samnaun, wie es
Lehrer Rudolf Jenal aus dem Munde des letzten „wilden Mannes“, Augustin
Heis, vernommen und Pater Decan Maurus Carnot mitgeteilt hat; vgl. P. M. Carnot
Igl um salvadi in der Zeitschrift Ischi, 1911, p. 170ff. …
2) Bd. II, p. 222.
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