Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
Einleitung 121
reife politische Sinn des Oberländer Volkes hatte richtig herausgefunden,
dass zwischen der damaligen Lage der Juden, die einen Einfall der Römer
zu befürchten hatten und der Lage der katholischen Oberländer, die von
einem Einbruch der protestantischen Übermacht bedroht waren, eine gewisse
Ähnlichkeit obwaltete. Die Phantasie des späteren Geschlechtes, dessen
Grossväter den Einfall der Prätigauer und Engadiner 1621 erlebt hatten,
liebte es, sich diese Situation auszumalen.
Wenn das Lumbreiner Passionsspiel für die rätoromanische Literatur
und Kultur auch nicht jene Bedeutung hat, wie sie dem Somvixer Passionsspiel
zuerkannt werden muss, so lässt es sich immerhin anderen Passionsspielen
an die Seite stellen, die von der Literaturgeschichte anderer Völker
sorgsam und liebevoll beachtet werden. In einem kräftigen Romanisch,
mit verhältnismässig reicher Handlung und nicht ohne einzelne glückliche
Szenen ist das Lumbreiner Passionsspiel ein bemerkenswertes Denkmal der
regen Liebe der romanischen Oberländer für die dramatische Darstellung.
Eigen ist das Auftreten der Juden in Klassen, das in das Somvixer Spiel
nicht herübergenommen war.
Es scheint glaublich zu sein, dass das Lumbreiner Passionsspiel in
der jetzt vorliegenden Redaktion zur Feier der Einführung der Bruderschaft
von den sieben Schmerzen Mariä bearbeitet wurde. Für eine deutsche
Vorlage sprechen einzelne deutsche Ausdrücke und Wandlungen, z. B.
Nirgerland, failg dilg chimermon, wie solche auch im Somvixer Spiel reichlich
vorkommen, sodass man auf die gleiche deutsche Vorlage schliessen
könnte. Wenn die Annahme zutreffend ist, so wäre Pfarrer Munschan sehr
wahrscheinlich der Verfasser des Lumbreiner Passionsspieles. Wie uns der
verstorbene Pfarrer und Canonicus Balthasar Arpagaus, der mit Lehrer Rochus
Capeder und Caspar Anton Collenberg die Aufführung leitete, versicherte,
war die Aufführung, die er uns ausführlich beschrieb, von den früheren im
18. und 19. Jahrhundert sehr wenig verschieden; denn in der damals abgeschlossenen
Bauerngemeinde … Lumbrein, wo die Bevölkerung ausschliesslich
von Ackerbau und Viehzucht lebte, wahrte man sorgfältig alte Sitten und
Gebräuche.
Der gleiche Gewährsmann erzählte, dass die Bauern selbst die offenen
Bühnen errichtet hatten und dass die Kleidung in Lumbrein selbst hergestellt
wurde; die Juden trugen aus grünem und rotem Tuch gefertigte
Beinkleider, die Jünger graue Talare (rassas), während Pilatus und Herodes
herrlich in Samt und Seide gekleidet waren. Die Muttergottes trug dasselbe
schwarze Kleid wie die Mater dolorosa in der Pfarrkirche; die
Soldaten des Pilatus traten in der roten Uniform der Schweizergarde von
Frankreich auf. An Waffen fehlte es nicht; war ja gerade in Lumbrein
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