Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
120
Einleitung
… ein wahrhaft mütterliches Wohlwollen. Joh. Caspar musste für die
Königstochter verschiedene Geschäfte in Paris besorgen; und als Collenberg
die Notizen über seine Familie niederschrieb, hatte er bereits 160 Briefe
der Prinzessin in seiner Hand.
Wenn Collenberg im zweiten Briefe von den Ahnen spricht, die mit
dem löbl. Pfarramt die Bruderschaft der sieben Schmerzen Mariä errichtet
haben, denkt er an die Vorfahren, Bürger von Lumbrein im allgemeinen.
Es beteiligen sich dann bei der Schenkung des Chormantels auch andere
Lumbreiner in Paris, so Benedikt Capeder, Lorenz Capaul, Otto Bartholomeus
Capaul.
Diese Notizen zur Familiengeschichte und die drei Briefe zeigen
klar und deutlich, wie die Sage, wenn sie die Entstehung des Passionsspieles
… mit Johann Caspar Collenberg und der französischen Königstochter
in Verbindung bringt, verschiedene Zeiten und Persönlichkeiten phantastisch
verbindet. Auch für das Volk eines weltentlegenen Bündnertales, aus dem
aber viele Soldaten und etliche Offiziere in Frankreich dienten, war der Hof
von Versailles der Innbegriff aller Pracht und Herrlichkeit. Was lag näher,
als das Lumbreiner Passionsspiel auf eine Königstochter zurückzuführen?
Es erzählt ja das rätoromanische Märchen so viel von Königstöchtern! —
Der Redakteur des Passionsspieles, wie es jetzt vorliegt, legte seiner
Bearbeitung wahrscheinlich ein deutsches Original zugrunde; ja wir glauben,
dass es eine relativ junge Bearbeitung des Passionsspieles aus dem 17. Jahrhundert
war, deren Verfasser sich eng an die Evangelien anschloss.
Zweifellos lag das Lumbreiner Passionsspiel oder sein deutsches Original
den Bearbeitern des Somvixer Passionsspieles vor. So ist die Rede
des Kaiphas im Anfange der 4. Szene in der Somvixer Passion augenscheinlich
der 4. Szene des Lumbreiner Spieles entnommen, die Anrede
des Herrn an das Kreuz in der Somvixer Passion ist die gleiche, wie in
der Passiun da Lumbrein 1).
Ein Vergleich zwischen beiden Passionsspielen überzeugt uns, dass
die kräftige Phantasie des rätoromanischen Volkes im Somvixer Passionsspiel
die engen Schranken durchbrach und eine eigene, echt rätische Passion
geschaffen hat. Wenn das Wort des Kaiphas, es sei besser, dass ein Mann
sterbe, als dass ein Volk verderbe, immer und immer als Leitmotiv der
hohenpriesterlichen Politiker wiederkehrt, so darf man nicht vergessen, dass
Landrichter Julius Maissen von Somvix, dessen sagenumwobenes Haus
mit dem Bilde des armen Lazarus und des „eisernen Mannes“ (igl um fier)
noch heute in der Mitte des Dorfes steht, die Auslieferung des Dr. Johann
Planta mit dem Ausspruche des Kaiphas begründet hatte. Der feine und
1) p. 26, I. 31 ― 35; p. 128, I. 33 — 36; p. 81, I. 31 ― 38; p. 146, I. 18 ― 24.
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