Band: IX

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In Band IX liegen die Seitenzahlen zwischen I und 293.
XII Einleitung.
Alessandro d' Ancona in Ripafratta gefunden und Nigra mitgeteilt, gibt
dieser in seinen: Canti popolari del Piemonte 1).
Wie bei den Märchen, so ist es auch bei den Balladen sehr schwer,
Eigenes vom Übersetzten auszuscheiden. So war es uns bei einem von
Flugi gegebenen Volksliede: „Ad eir üna giuvna sün ün marchio“ immer
aufgefallen, dass die verlassene Tochter bekennt, sie sei vom treulosen
Geliebten verlassen worden, weil ihr Vater ein Hirte, ein Gemeindediener
gewesen sei. Der Hirtenstand wurde bei den Rätoromanen nie als ein
niedriger Stand angesehen, sondern war dem Bauernstand vollkommen ebenbürtig.
… In der Version, die Vital gibt, wird der Hirt dem Edelmanne,
der eine goldene Kette trägt, gegenübergestellt; dieser Gegensatz zwischen
Hirt und Edelmann ist für das Engadin noch unwahrscheinlicher. Der
ganz nationale Schluss, nämlich die Berufung auf die schöne Ebene von
„las Agnias“, die alte Richtstätte des Engadins, hatten aber unseren Verdacht
als einen unbegründeten erscheinen lassen. Zum Glück aber hat sich
bei Vital der ursprüngliche Schluss erhalten: „Dieses Lied, das ihr gehört
habt, ist gerade hier ohne Schwierigkeit übersetzt worden. Und der es
zuerst gesungen hat, der war ein Mann, der schon verheiratet war. Ich
nenne ihn nicht, aber ich halte ihn für einen Ehrenmann.“ Nach Ton
und Haltung glauben wir, die Übersetzung in das 17. Jahrhundert verlegen
… zu müssen. Aus dem Deutschen übersetzt, erklärt sich die Gegenüberstellung
… des Hirten und Edelmannes.
Der Einfluss des französischen Liedes auf unser romanisches ist unbestreitbar;
… weiss doch sogar das surselvische Kinderlied vom Burschen zu
erzählen, der nach Frankreich ging, um für den König die Lanze zu
führen. Und Campell bezeugt durch ein aufbewahrtes Bruchstück eines
Volksliedes, wie schon im 16. Jahrhundert der Engadiner ein französischer
Söldner wurde, der vom König als vom „guten Vater“ die ausgeteilten
Sonnenkronen in Empfang nimmt. So ist das Lied von den drei jungen
Tambouren mit dem Refrain: „Ran, ran, rataplan“ auf das Original zurückzuführen,
… das uns Graf de Puymaigre in seiner Sammlung von Volksliedern
… aus Lothringen aufbewahrt hat und das sich in verschiedenen
Varianten in ganz Frankreich 2), bei den Piemontesen 3) und Katalanen 4)
1) In den Anmerkungen zu den Volksliedern, die in Band X erscheinen,
geben wir zu einer Anzahl die fremdländischen Originale.
2) Romancero de Champagne, par M. Tarbé t. II., p. 127. Romania, XIII.,
434. Guillon, Chans, pop. de l' Ain, 91. Gérard de Nerval, Les filles du feu,
La Bohème galante. Annuaire des trad. pop. II, 46. Mémoires de la Société
d' emulation de Cambrai, t. XXVIII, p. 276. E. Rolland, Rec. I., 266. II., 149.
3)
Costantino Nigra, Canti popolari del Piemonte, p. 382 — 385.
4)
F. P. Briz, Consons de la terra, III, 111. Milá, Romancerillo, 175.
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