<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> V Einleitung. <lb/>
Wenn die Volksseele sich nirgends so scharf ausprägt wie in Sage <lb/>
und Lied, Märchen und Kinderspruch, so sind wir froh überzeugt, mit <lb/>
diesem Bande unseres Sammelwerkes ein wertvolles Stück des ureigenen <lb/>
rätoromanischen Volkstums bieten zu können. <lb/>
Wie bei jedem gesunden Volke nimmt auch an den Ufern des Inns <lb/>
das Liebeslied einen ausgedehnten Raum ein, sowohl das ernste Lied <lb/>
von Treue und Untreue, als der leichte Sang jugendlichen Übermutes. <lb/>
Im Banne des traditionellen Bildes, in dem die Jugend ein blühender <lb/>
Garten ist, begrüsst auch das ladinische Volkslied die Geliebte als weisse <lb/>
Rose, als rote Nelke, als Lilie in Ehren und wird nicht müde, die treue <lb/>
Liebe immer wieder zu preisen. Nicht ohne leise Schalkheit und zarte <lb/>
Schicklichkeit weiss das Lied, wo es vom Liebesapfel spricht, goldene <lb/>
Hoffnungen vorzuzaubern. Aber auch der schrille Ton gebrochener Treue <lb/>
tönt erschütternd durch manches Lied: die Sonne verfinstert sich, der <lb/>
Mond kleidet sich in Trauer, die Sterne fallen und die Wasser stehen <lb/>
still ob der bösen Tat der Untreue. Und hier klagt eine Maid, die einem <lb/>
Ungeliebten die Hand reichen muss, ihr heimlich Herzeleid; sie kann <lb/>
nimmer lustig sein, sonst bräch' ihr das wunde Herz entzwei, noch darf <lb/>
sie klagen, was sie drückt, sonst wär' es für den Bräutigam ein zu grosser <lb/>
Schmerz. Dort aber begegnen wir dem entschlossenen Mädchen, das trotz <lb/>
allen Zwanges den hässlichen Alten zurückweist; und wir begegnen dem <lb/>
Burschen, der vor die Wahl gestellt ist, der unschönen Reichen oder der <lb/>
hübschen Armen die Hand zu reichen, aber das klare Wasser aus dem <lb/>
Quell dem herben Wein aus dem geschliffenen Glase vorzieht. <lb/>
Aus einer Zeit stammend, da man feierlichen Worten eine geheimnisvolle <lb/>
… Kraft beimass, also wohl ursprünglich ein Wunsch- und Zaubersang <lb/>
ist jenes Lied, das vom Knechte erzählt, der mit der Sonne aufsteht, um <lb/>
die Geliebte zu gewinnen, die sich nacheinander in eine Rose, ein Körnlein, <lb/>
… eine Gemse, einen Engel verwandelt, aber vom Geliebten in den <lb/>
gleichen Gestalten allüberallhin verfolgt und endlich gewonnen wird. Es </body> </text></TEI>