Band: IX

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In Band IX liegen die Seitenzahlen zwischen I und 293.
X Einleitung.
Zum ältesten Bestandteil unseres Liederschatzes kann auch das Streitlied
… zwischen Wein und Wasser gezählt werden, das uns Campell aufbewahrt
… hat und das sicher ein paar Jahrhunderte älter ist, als Campells
Aufzeichnung, der offenbar alles weggelassen hat, was an den alten
Glauben erinnerte.
An verschiedenen Stellen haben wir uraltes Erbgut unserer Volkspoesie,
… von einer allzu klugen und kalten Zeit in die Rumpelkammer des
Kinderliedes verwiesen, an den alten Ehrenplatz gestellt, den es früher
im religiösen und sozialen Leben einnahm.
Ähnlich dem Märchen geht der Stoff der Balladen von Land zu
Land, von Volk zu Volk; in der Behandlung des nämlichen Erzählungsstoffes
… bei den verschiedenen Völkern spiegelt sich die nationale Eigenart
wieder, die den Liedern den eigentlichen Charakter verleiht. Echt rätisch
ist jenes Lied, das uns von den treuen Lieben erzählt, die nicht voneinander
… lassen und die, wenn sie im Leben getrennt waren, im Tode vereint
… werden. In der verstümmelten Gestalt, wie das Lied „o mama chara“
uns im Ladinischen und Surselvischen überliefert wird, ist dasselbe ziemlich
… unverständlich. Offenbar bedeutet der Trunk, der sonst ganz unmotiviert
… wäre, einen Verlobungstrunk oder einen Trunk zum Zeichen
geschlossener Ehe. Noch das statutum synodale Andegavense erwähnt
die falsche Meinung, die Ehe werde abgeschlossen, indem die Brautleute
gemeinsam aus einem Glase Wein trinken; und Polydorus Virgilius erzählt:
… „Sponsa apud Anglos postquam benedixerit sacerdos in templo,
incipit bibere, sponso et reliquis adstantibus idem mox facientibus“. Wir
denken uns, das Lied erzählte ursprünglich, wie der Geliebte in dem
Augenblick ankommt, da die Braut einem anderen angetraut wird; ob des
traurigen Wiedersehens sterben beide gebrochenen Herzens und werden
nebeneinander begraben und aus ihrem Grabe wachsen Blumen, die sich
umschlingen, „weil die beiden einander so lieb gehabt“. Die oberländische
Form steht dem Original näher als die ladinische; dort haben sich noch
die rote Rose und die weisse Lilie erhalten, während sie, wohl um des
Reimes willen, in der ladinischen Form durch die Kamillenblüte und die
Muskatnuss ersetzt werden.
Ladinisch hat sich auch eine alte Form des Liedes: „O bab, bab“
erhalten; hier ist es noch das Schlossfräulein, von dem berichtet wird, wie
es von Knechten und Mägden Abschied nimmt, ehe sie gezwungen
heiratet und dem ungeliebten Manne die Hand reicht. Die Vermutung,
die wir in unserer Vorrede zu den oberländischen Volksliedern ausgesprochen
… haben, das Lied gehe in das Mittelalter zurück, scheint somit
begründet zu sein; wir haben hier eine Gestalt des Liedes vor uns, wo
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