Band: IX

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In Band IX liegen die Seitenzahlen zwischen I und 293.
VIII Einleitung.
… hier nicht selten schwer zu ziehen ist und es mag sein, dass dieses
oder jenes Lied aufgenommen wurde, das kein Volkslied im strengen
Sinne ist, obwohl wir bestrebt waren, nach dem oben angegebenen Gesichtspunkt
… aufzunehmen und auszuscheiden, weshalb wir auch eine grössere
Anzahl Lieder, die in früheren Sammlungen als Volkslieder aufgenommen
wurden, fallen liessen. Fragt der freundliche Leser nach dem Eigenen
und Charakteristischen am ladinischen Volkslied, so wollen wir eine kurze
Antwort zu geben versuchen. Der Charakter der Rätoromanen, die an der
Wasser- und Völkerscheide sich erhalten haben — ein Purpurstück des
römischen Kaisermantels neben dem germanischen Speer — hat im Volksliede
… deutsche Gemütstiefe mit dem lateinischen Sinn für Mass und Schönheit
… zu verbinden gestrebt, so dass das romanische Volkslied zwei Vorzüge
aufweist: tiefes Gefühl und harmonische, vornehme Form. Gerade bei
den Liebesliedern, wo dem Spotte sein Recht wird und heikle Situationen
zur Sprache kommen, zeigt sich ein ausgesprochener Sinn für das Schöne
und Schickliche.
Aus den historischen Liedern spricht die Eigenart des rätoromanischen
… Volkes, das Selbstbewusstsein und trotzige Kraftgefühl, das den
Männern der III Bünde eigen war, das auf dem ruhmreichen Schlachtfelde der
Kalvenklause, wie auf Italiens Blachfeldern gewachsen war und die blutigen
Befreiungskämpfe gegen Baldirons Scharen zu Ende führen liess. Die
grosse, ruhmreiche Geschichte, die noch aus den Briefen des Peter Planta,
aus den selbstbewussten Worten über die Vereinigung mit der jungen
Eidgenossenschaft herausklingt, erklärt uns den starken Zug, der die
rätischen Fahnen und das rätische Lied bewegte.
Wenn Flugi meint, die puritanische Richtung der Reformation im
Engadin hätte den alten Volksliedern, die verpönt wurden, das Los der
Vergessenheit zugeteilt, so wird diese Meinung durch die Zusammen- und
Gegenüberstellung sämtlicher rätoromanischen Volkslieder nicht bestätigt.
Gerade die besten erzählenden Lieder des katholischen Oberlandes finden
sich auch im Engadin, die ältesten Liebeslieder finden sich in surselvischen …
und ladinischen Versionen, so dass der Einfluss der Reformation auf das
Volkslied als ein sehr geringer zu bezeichnen ist.
Zu den ältesten Volksliedern gehören jene, die ursprünglich bei
Kultushandlungen gesungen wurden; sie verherrlichen Erscheinungen und
Kräfte der Natur, die als persönliche Wesen aufgefasst und verehrt wurden.
Die Feier des beginnenden Lenzes, des wiedererwachten Vegetationsdämons
stand auch im Inntal im ungeschriebenen Kalender des Volkes. Wie aus
einem Kinderspruche „mantinada“ aus dem Bergell erhellt, ward der Einzug
… der wärmeren Jahreszeit und das Erwachen der Vegetation mit Spiel
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