<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> Einleitung. VII <lb/>
Wenn sich im Engadin die Volkslieder so lang erhalten haben und, <lb/>
wenn auch zu sehr später Stunde gesammelt, noch eine reiche und schöne <lb/>
Ausbeute gewährten, so hängt das damit zusammen, dass das Engadinervolk <lb/>
… bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine moralische Einheit bildete <lb/>
und dass weder Geburt und Reichtum, noch Bildung einen Gegensatz <lb/>
zwischen Volk und Herren, zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufklaffen <lb/>
… liess. Seit dem Ausgang des Mittelalters und der Bildung der <lb/>
Bünde waren die Sonderrechte des Adels verschwunden. Und wenn der <lb/>
Adel trotzdem grossen Einfluss besass und ihn durch Jahrhunderte behauptete, <lb/>
… so waren die führenden Aristokraten immer sorglich bestrebt, <lb/>
das Selbstbewusstsein des souveränen Volkes nicht zu verletzen. Sorgten <lb/>
ja die blutigen Strafgerichte dafür, dass das alte rätische Gebet: „Gott <lb/>
bewahr uns vor des Volkes Zorn!“ nicht leicht vergessen werden konnte! <lb/>
Die Familien, die sich im Fremdland Vermögen erworben hatten, <lb/>
kehrten später alle in die Heimat zurück und hüteten sich ängstlich, die <lb/>
Bande mit den Volksgenossen zu lockern. <lb/>
Die Pfarrer, die in Zürich, Genf und Basel ihre Bildung geholt — <lb/>
und sie war bei einigen derselben eine nicht unbedeutende — wie die <lb/>
Juristen, die in Paris und Padua studiert hatten, mussten, wenn sie wirken <lb/>
wollten, die Sprache des Volkes reden. Männer wie Martinus ex Martinis <lb/>
und sein Sohn Johannes, der Staatsmann und Krieger Gioerin Wiezel, <lb/>
um nur diese charakteristischen Vertreter zu nennen, haben gezeigt, wie sie <lb/>
in ihren Liedern den Volkston ausgezeichnet zu treffen verstanden. <lb/>
Niemand ragte aus dem Volke heraus und niemand sank unter dasselbe <lb/>
… hinab: man spielte dasselbe Spiel, beteiligte sich am nämlichen <lb/>
Tanz und die gleichen Balladen und Liebeslieder ertönten im Herrenhaus <lb/>
und in der Bauernstube. Zweifellos hat der originelle, scharf ausgeprägte <lb/>
Volkscharakter mitgeholfen, das Fremde fernzuhalten und das Eigene zu <lb/>
pflegen. <lb/>
Heute zeigt sich die Einwirkung der Schule, der Kaserne und eines <lb/>
hochentwickelten Fremdenverkehrs immer stärker und die eigene, von den <lb/>
Vätern ererbte ladinische Kultur — wir dürfen hier das Wort Kultur <lb/>
wirklich gebrauchen — verschwindet langsam, um einer neuen, internationalen <lb/>
Gesittung Platz zu machen; und so manches Lied wird mit dem letzten <lb/>
Sänger und der alten Sängerin auf den stillen Friedhof getragen. <lb/>
Nur jene Lieder, die dem Sinnen und Fühlen der Volksseele Ausdruck <lb/>
… liehen und darum im Volke ein so treues, kräftiges Echo fanden, <lb/>
rechnen wir zu den Volksliedern. Darum schlossen wir von der Sammlung <lb/>
… alle jene Lieder aus, die das Gepräge des Gemachten an sich tragen <lb/>
und zumeist kurzlebig waren. Wir geben ja gerne zu, dass die Scheidelinie </body> </text></TEI>