<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> VI Einleitung. <lb/>
ist jene alte Weise, die von Volk zu Volk wandert und in der Fassung <lb/>
des Magali - Liedes in Mireio wohl am bekanntesten geworden ist. Mit <lb/>
dem Liebeslied berührt sich das bei den Engadinern so gepflegte Lied <lb/>
vom Scheiden und Meiden; es schildert uns den tiefen Schmerz, den die <lb/>
Trennung vom geliebten Tale bereitet. Wohl wenige Abschiedslieder <lb/>
können sich an Tiefe der Empfindung und dichterischem Ausdruck mit <lb/>
dem Liede vergleichen, in dem der Jüngling beim Morgengrauen von <lb/>
jedem, der ihn sieht, Abschied nimmt und aus dem Geläute heraushört, <lb/>
wie die Glocken alle mit ihm klagend klingen, mit ihm, der dann entschlossen <lb/>
… seinen herben Schmerz hineinwirft in des Bergsees Tiefe. Ein <lb/>
glücklicher Fund (Ms. Pont.) macht es uns möglich, den Einfluss des <lb/>
italienischen Liebesliedes des 16. und 17. Jahrhunderts auf das ladinische <lb/>
Volkslied zu verfolgen. <lb/>
Ein Pflanzgarten des Volksliedes war die Spinnstube (tramelg); die <lb/>
Spinnerinnen und die Burschen liebten es, ein Lied anzustimmen und <lb/>
einmal angefangen, wurde das Füllhorn bekannter Volkslieder von der <lb/>
sangesfrohen Dorfjugend mehr oder weniger ausgepflückt und wohl auch <lb/>
gelegentlich bereichert. Wie sich Zeiten und Sitten, Trachten und Waffen <lb/>
änderten, zeigten sich die Spuren der kulturellen Entwickelung auch an <lb/>
den Liedern. Aber die Balladen, die besten Liebeslieder, die Spott- und <lb/>
Rügelieder haben sich erhalten, seit den Tagen, wo Campell gegen sie <lb/>
als schändliche Lieder eiferte. Gerade die ältesten Lieder finden sich in <lb/>
allen rätoromanischen Mundarten, finden sich in fast gleichem Gewande <lb/>
an den Quellen des Rheins wie im Engadin, was Gaston Paris in seiner <lb/>
Besprechung der Sammlung von Flugi mit dem ihm eigenen divinatorischen <lb/>
Blick richtig erkannt hat. <lb/>
Es gab immer Männer und Frauen, meistens solche, die selbst neue <lb/>
Worte und Weisen fanden, die eine grosse Anzahl von Gesängen aus dem <lb/>
Gedächtnis vortragen konnten; auch die Blinden und Armen, die, Almosen <lb/>
heischend, von Dorf zu Dorf zogen, waren häufig Träger und Verbreiter <lb/>
der Lieder. Wenn das Volk öfter ein Lied, das ihm zu lang war, kürzte, <lb/>
so wollten diese Sänger nicht selten die Lieder verlängern und ausschmücken, <lb/>
nahmen auf ganz willkürliche Weise einzelne Strophen von einem Lied <lb/>
in das andere herüber, ja verknüpften auf sinnlose Art Lied mit Lied. <lb/>
Fragen wir nach dem Ursprung der Volkslieder, so finden wir nur <lb/>
wenige Andeutungen. Während Ton und Haltung einiger Lieder auf <lb/>
Frauengemüt und Frauenmund hinweisen, bekennt sich „ein junger <lb/>
Mann, der Federn am Hute trägt“, „ein schmucker Bursche“, „einer <lb/>
der imstande ist, über die ganze Welt dahinzuspringen“, als Verfasser eines <lb/>
Liedes. </body> </text></TEI>