Band: II

Seite: 1101 (RF) Zur Bandauswahl

In Band II liegen die Seitenzahlen zwischen I und 1114 (RF).
Nachwort
1101
schmiegt sich den veränderten Anschauungen und Sitten an, bisweilen aber
so, dass diese Anschmiegung nicht konsequent durchgeführt ist, sondern
zwei verschiedene Zeitalter mit ihren Zuständen und ihrer Vorstellungswelt
in demselben Liede sich spiegeln. In der uns erhaltenen Version der genannten
… Ballade sagt die Mutter, die ihre Tochter tröstet: „Du warst
immer eine ehrbare Tochter. Auch Vermögen, Geld wird dir nicht
fehlen.“ Die Tochter antwortet: „Was helfen mir Pferde und Diener, wenn
der Kummer nagt an meinem Herzen?“ Ein Abschnitt allgemeiner Culturgeschichte
… liegt zwischen Rede und Gegenrede. Und zufälliger Weise ist es die
Mutter, welche die jüngere Stufe der Entwicklung vertritt; ihr ist Geld,
Kapital das sichtliche Zeichen des Wohlstandes, während in der Antwort
der Tochter Pferde und zahlreiche Dienerschaft als Massstab des Reichtums
und Ansehens erscheinen. Die Geldwirtschaft einer neuen Epoche steht
hier jener Naturalwirtschaft des Mittelalters gegenüber, die in Rätien wie
anderswo die Zehnten und Gefälle zur Erhaltung eines grossen Gefolges
verwendete und in diesem Gefolge Sicherheit, soziale Stellung und Ehre
des Herrn verkörpert sah. Ächt mittelalterlich ist auch jenes seltsame
Lied: O Gion Petschen dil tgau plat, in welchem die Mutter die
Tochter vor der Heirat mit dem Knechte abmahnt, wobei der Knecht
ähnlich wie im Rigsmal als garstig von Antlitz dargestellt wird. In späteren
Zeiten scheint dieses Lied zu bösen Streitigkeiten Anlass gegeben zu haben,
denn der Sänger bittet die, denen es nicht gefalle, sich zu entfernen. In
gleichem Geiste ist das in mehreren Bruchstücken uns überlieferte Lied gehalten:
… Si Surselva, dus a dus ensemen, wo sich Knecht und Magd
am Herde verloben und die Mäuse mit langen Schwänzen zur Hochzeit
erscheinen. Von einer alten Gastsitte erzählt uns jenes balladenartige
Lied: Tgi ei cheu o, che splunta? Ein historisches Ereignis, auch eine
Lokalsage berichtet von ihm, liegt zweifellos dem erzählenden Liede: Stai
si scarvon Gion Paul marvegl! zu Grunde, während wir in dem
Liede von der Hochzeit des Heuschrecks und der Ameise die romanische
… Bearbeitung des uralten Stoffes von der Tierhochzeit vor uns
haben.
Auch das Spott- und Rügelied trieb bei den Rätoromanen seine
Sprossen, wie aus der Schilderung eines Hochzeitsmahles und eines hässlichen
… Unholdes ersichtlich.
Der Tanz, eine Lieblingsbeschäftigung des rätischen Volkes, fand in
mehreren Liedern seine Verteidigung und Verherrlichung, während andererseits
… zahlreiche Sänger vor dem bösen, teuflischen Vergnügen warnten.
Manches Lied, das zum erstenmal bei der Aufführung einer Komödie
gesungen wurde, erhielt sich als Volkslied.
<TEI> <teiHeader> <fileDesc> <titleStmt> <title type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition>Digitalisierte Ausgabe</edition> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">1</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Köln</pubPlace> <publisher> <orgName>Sprachliche Informationsverarbeitung, Universität zu Köln</orgName> <email>buero@spinfo.uni-koeln.de</email> <address> <addrLine>Albertus-Magnus-Platz</addrLine> <addrLine>50923 Köln</addrLine> </address> </publisher> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/"> <p>Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.</p> </licence> </availability> </publicationStmt> <sourceDesc> <bibl>Decurtins, Caspar: Rätoromanische Chrestomathie</bibl> <biblFull> <titleStmt> <title level="m" type="main">Rätoromanische Chrestomathie</title> <author> <persName> <surname>Decurtins</surname> <forename>Caspar</forename> </persName> </author> </titleStmt> <editionStmt> <edition n="1"/> </editionStmt> <extent> <measure type="pages">7260</measure> </extent> <publicationStmt> <pubPlace>Erlangen</pubPlace> <publisher> <name>Vollmöller, Karl</name> </publisher> </publicationStmt> </biblFull> <msDesc> <msIdentifier> <repository>Digizeitschriften.de</repository> </msIdentifier> <physDesc> <typeDesc> <p>Chrestomatie</p> </typeDesc> </physDesc> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <p>Dieses Werk wurde in XML/TEI P5 kodiert.</p> </encodingDesc> <profileDesc> <langUsage> <language>Rhaeto Romanic</language> </langUsage> <textClass></textClass> </profileDesc> </teiHeader> <text> <body> Nachwort <lb/>
1101 <lb/>
schmiegt sich den veränderten Anschauungen und Sitten an, bisweilen aber <lb/>
so, dass diese Anschmiegung nicht konsequent durchgeführt ist, sondern <lb/>
zwei verschiedene Zeitalter mit ihren Zuständen und ihrer Vorstellungswelt <lb/>
in demselben Liede sich spiegeln. In der uns erhaltenen Version der genannten <lb/>
… Ballade sagt die Mutter, die ihre Tochter tröstet: „Du warst <lb/>
immer eine ehrbare Tochter. Auch Vermögen, Geld wird dir nicht <lb/>
fehlen.“ Die Tochter antwortet: „Was helfen mir Pferde und Diener, wenn <lb/>
der Kummer nagt an meinem Herzen?“ Ein Abschnitt allgemeiner Culturgeschichte <lb/>
… liegt zwischen Rede und Gegenrede. Und zufälliger Weise ist es die <lb/>
Mutter, welche die jüngere Stufe der Entwicklung vertritt; ihr ist Geld, <lb/>
Kapital das sichtliche Zeichen des Wohlstandes, während in der Antwort <lb/>
der Tochter Pferde und zahlreiche Dienerschaft als Massstab des Reichtums <lb/>
und Ansehens erscheinen. Die Geldwirtschaft einer neuen Epoche steht <lb/>
hier jener Naturalwirtschaft des Mittelalters gegenüber, die in Rätien wie <lb/>
anderswo die Zehnten und Gefälle zur Erhaltung eines grossen Gefolges <lb/>
verwendete und in diesem Gefolge Sicherheit, soziale Stellung und Ehre <lb/>
des Herrn verkörpert sah. Ächt mittelalterlich ist auch jenes seltsame <lb/>
Lied: O Gion Petschen dil tgau plat, in welchem die Mutter die <lb/>
Tochter vor der Heirat mit dem Knechte abmahnt, wobei der Knecht <lb/>
ähnlich wie im Rigsmal als garstig von Antlitz dargestellt wird. In späteren <lb/>
Zeiten scheint dieses Lied zu bösen Streitigkeiten Anlass gegeben zu haben, <lb/>
denn der Sänger bittet die, denen es nicht gefalle, sich zu entfernen. In <lb/>
gleichem Geiste ist das in mehreren Bruchstücken uns überlieferte Lied gehalten: <lb/>
… Si Surselva, dus a dus ensemen, wo sich Knecht und Magd <lb/>
am Herde verloben und die Mäuse mit langen Schwänzen zur Hochzeit <lb/>
erscheinen. Von einer alten Gastsitte erzählt uns jenes balladenartige <lb/>
Lied: Tgi ei cheu o, che splunta? Ein historisches Ereignis, auch eine <lb/>
Lokalsage berichtet von ihm, liegt zweifellos dem erzählenden Liede: Stai <lb/>
si scarvon Gion Paul marvegl! zu Grunde, während wir in dem <lb/>
Liede von der Hochzeit des Heuschrecks und der Ameise die romanische <lb/>
… Bearbeitung des uralten Stoffes von der Tierhochzeit vor uns <lb/>
haben. <lb/>
Auch das Spott- und Rügelied trieb bei den Rätoromanen seine <lb/>
Sprossen, wie aus der Schilderung eines Hochzeitsmahles und eines hässlichen <lb/>
… Unholdes ersichtlich. <lb/>
Der Tanz, eine Lieblingsbeschäftigung des rätischen Volkes, fand in <lb/>
mehreren Liedern seine Verteidigung und Verherrlichung, während andererseits <lb/>
… zahlreiche Sänger vor dem bösen, teuflischen Vergnügen warnten. <lb/>
Manches Lied, das zum erstenmal bei der Aufführung einer Komödie <lb/>
gesungen wurde, erhielt sich als Volkslied. </body> </text></TEI>