Band: II

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1100 Nachwort
der ganz modernen Sprache in jene Zeit setzen zu dürfen, als die Kirche
des hl. Georg bei Rhäzüns mit ihrer Glocke die Bewunderung der Bewohner
… der Subselva erregte und diese Glocke im Liede zu der ursprünglich
… wohl allein stehenden des Klosters St. Galen gefügt wurde. Wenn
im Margaretaliede der Kunkelsberg, der auch im Kinderliede vorkommt,
genannt wird, so kann uns das nicht überraschen, sassen ja im Mittelalter
dies- und jenseits des Berges Rätoromanen. Unser St. Margaretalied ist
zugleich ein interessanter Beitrag zur Margaretalegende, die wir bei
den deutschen, romanischen und slavischen Völkern finden.
In dem gewiss alten Burschin de Sontg Valentin schimmert ein
Pflanzendämon durch, der vielleicht schon vor der Christianisirung einem
höheren Gotte weichen musste. Noch heute weiht man dem hl. Valentin
eine schwarze Henne zum Schutze gegen Gichtern bei Kindern. Vom Alpsegen,
… den nur noch ein Hirt im ganzen Oberlande vollständig kannte, hat
sich eine zweite Version handschriftlich aufgefunden; mit ihrer stärkeren
Betonung des Zauberwesens repräsentiert sie eine spätere Form.
Ueberraschend reich, selbst für diejenigen, die Land und Leute genau
kennen, ist die Sammlung der Volkslieder ausgefallen. Den Hauptbestandteil
… bildet das Liebeslied, das bei einem so gesunden und kräftigen,
wenn auch kleinen Volke reichlich Blüten tragen musste. Die selige Lust
erwiderter Liebe, die trostlose Traurigkeit erzwungenen Scheidens und
Meidens, die bange Qual des Zweifels und der Eifersucht fanden in unserem
Volkliede einen eben so wahren wie poetischen Ausdruck. Ähnlich wie im
Märchen nahmen auch jene Balladenstoffe, die von Volk zu Volk gewandert
waren, bei den Rätoromanen eine eigene, scharf ausgeprägte Gestalt an.
Zu den ältesten dieser Dichtungen gehört zweifellos jenes: O frari, o frari,
das in freilich verstümmelter Überlieferung noch heute gesungen wird.
Gerade diese Ballade gleicht dem in langem Flusslaufe bis zur Unkenntlichkeit
… abgeschliffenen Kieselstein. Ursprünglich wird der treue Liebhaber
wohl die Braut bereits mit dem ihr aufgezwungenem Bräutigam verlobt
gefunden haben, um dann mit ihr an gebrochenen Herzen zu sterben.
Der Trunk, welcher in unserer Ballade jetzt so unerklärt erscheint, war
ursprünglich wohl der Verlobungstrunk, den die Braut kredenzen musste,
gelten doch Kuss und Trunk im longobardischen Rechte als Besiegelung
des Verlöbnisses, und auch später, in Epos und Volkslied des Mittelalters,
spielte bei der Verlobung der Becher eine Rolle. Ganz national behandelt
den gleichen Stoff die durch alle rätoromanischen Dialekte verbreitete Ballade:
Surselva, Surselva, Ti freida, Surselva! die wahrscheinlich in
Schams entstanden ist. Diese Ballade zeigt uns in anschaulichster Weise,
wie ein Lied durch die Jahrhunderte wandert. Der Inhalt bleibt, die Form
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