Band: II

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In Band II liegen die Seitenzahlen zwischen I und 1114 (RF).
Nachwort
1099
Zahlreiche Überreste der niederen Mythologie enthält auch die Sammlung:
… Aberglaube. Wir erinnern nur an die Seelen in den Seen, das
Feuer- und Windopfer.
Charakteristisch für das rätoromanische Volk sind die Sprichwörter
über die Gemeinde und den freien Bauer. Hier weht uns jener Geist
entgegen, der die Burgen brach und die Volksbünde schuf.
Auch bei den Landwirtschaftsregeln und Rätseln begegnen
wir allerlei Resten von mythischen Vorstellungen, so wenn der Winter
ein riesiges Pferd und der erste Schnee sein Füllen ist, wenn der Wind
als gewaltiger Riese erscheint, der über die Erde dahinschreitet, oder wenn
der Monat Februar einen Wolfsrachen und einen goldenen Schweif hat.
Die Heiligen Agatha und Verena sind wohl an Stelle alter Wettergottheiten
… getreten.
Das Kinderlied ist auch bei den Rätoromanen die letzte Zufluchtsstätte
… alten Glaubens, alten Rechtes und alter Sitte, und so manches, was
sich in diesen Sprüchen erhalten, erfüllt für den Kulturhistoriker die gleiche
Aufgabe wie die Leitmuschel für den Geologen. Im Kinderliede leben
noch fort die Nebelmutter, welche saugt, bis sie platzt, und die Gewitterwolke,
… welche als
böse Brida verderbenbringend vom Gebirge herkommt.
Man gibt dem Kinde beim Herde den Namen und der Junge muss das
Mädchen, das so viel kostet, kaufen. Das Kinderlied erzählt von der
von schwäbischen Burgen bedrängten Grenzbrücke in Ringgenberg, und es
kommt noch die Strafe des Pfählens vor.
Wie nirgends spiegeln sich die verschiedenen sprachlichen und
kulturellen Einflüsse, welche auf die Rätoromanen eingewirkt haben, in
den Kinderspielen, die hier zum erstenmale gesammelt erscheinen.
Da begegnen wir dem alten lateinischen Zählungsreime, neben beidsprachigen
und rein rätoromanischen Formen; ja einzelne Spiele tragen noch lateinische
Namen.
Indem die Volksgebräuche gesammelt wurden, war es möglich,
einen Einblick in das Wesen derselben zu erhalten. So wissen wir heute,
dank der Form, welche
die Mantinadas in Vrin annahmen, dass diese
alte rätische Feier zum Preise des in der Natur neu erwachten Vegetationsgeistes
… abgehalten wurde. Die Gebräuche beim Dreschen des Kornes
zeigen, wie die Korndämonen selbst auf dem vorgeschobensten Posten des
Getreidebaues ihre Verehrung fanden.
Zu den ältesten Denkmälern der rätoromanischen Volkslitteratur gehören
… unzweifelhaft die Tavetscher Zaubersprüche und die Canzun
de Sontgia Margaretha. Letztere geht nach unserer Ansicht in das
früheste Mittelalter zurück. Die uns vorliegende Version glauben wir trotz
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