Band: XIII

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In Band XIII liegen die Seitenzahlen zwischen 7 und 246.
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La Passiun da Somvitg
Würdenträger abzugeben und so die Landsgemeinde zu beeinflussen 1). In
der demokratischen Bewegung, durch die das letzte Strafgericht zustande
kam, behaupteten Geistliche noch eine führende Rolle, wie der Trunser
Pfarrer Caplazi 2), der Verfasser der Lieder, die vielleicht mehr als alle
andern zum Sturze der österreichischen Partei und der Aristokraten überhaupt
beigetragen haben. Aber die im Passionsspiele zutage tretende eingehende
Kenntnis des in der Cadi üblichen Kriminalverfahrens … und die
Vertrautheit mit dem Recht und den Statuten des Hochgerichtes lassen auf
einen Mann schliessen, der längere Zeit im obrigkeitlichen Amte gesessen.
Gewiss finden wir bereits in den älteren Passionsspielen anderer Kulturvölker
heftige satirische Ausfälle auf die Geistlichen; aber der Gegensatz,
in dem hier die Priester zum Herrn treten, lässt einen Verfasser vermuten,
der sich im bewussten Gegensatz zu den Geistlichen befand.
Wiederholt wird Jesus als der Lehrer dargestellt, der das arme, einfältige
Volk belehrt und aufklärt, was den Zorn und die Entrüstung der Hohepriester
hervorruft und gerade diese Belehrung des Volkes ist der Hauptvorwurf,
den die Priester und ihre Freunde dem Herrn machen; Jesus, der
ohne Auftrag und ohne Erlaubnis dem Volke predigt, wird den gelehrten
Theologen, die auf den Akademien studiert haben, gegenübergestellt. Annas
stellt an den Herrn die Frage, wer ihn zum Doktor und zum Lehrer des
hl. Gesetzes gemacht habe; Soliman antwortet höhnend: „Er ist vom Ochsen
und vom Esel im Stalle von Bethlehem, wo er geboren wurde, zum Doktor
gemacht worden.“
Eine Erinnerung an den gerade in der Cadi langwährenden Streit
über die geistliche Gerichtsbarkeit, der noch im beginnenden 19. Jahrhundert
bei der Neubearbeitung der durch den Brand zerstörten Statuten
des Hochgerichtes aufloderte, kann in der 11. Szene gefunden werden,
wo Soliman erklärt: „Wir Geistliche haben eigene Rechte, nicht vor dem
weltlichen Gericht erscheinen zu müssen.“ „Per quam regulam?“ fragt
der Kanzler. „Wir sind vom Geschlechte des Bruders des Moyses, des
Hohenpriesters Aaron.“ Darauf bemerkt der Kanzler: „Das gebe ich zu;
aber was hat dies zu sagen?“ Wahrscheinlich haben wir hier den Verfasser
in einem Manne zu suchen, der die alte Tradition der Führer der
Cadi bewahrt hat und, der katholischen Partei angehörend, entschieden die
„alten Rechte und Prärogativen des Hochgerichtes“ verteidigte. Wir
denken an Männer wie Bannerherr Jodocus de Cuntrin, Potestat Simon de
1) C. Decurtins, Landrichter Nikolaus Maissen, p. 29.
2) C. Decurtins, Der Krieg des Bündner Oberlandes gegen die Franzosen,
p. 3.
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